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Zum Zeugnis verpflichtet

Fevereiro 6, 2009

Einleitung: Kairos für eine missionarische Pastoral

Die Zeichen der Zeit stehen auf Aussaat – diese Wahrnehmung motivierte die französischen Bischöfe zu ihrem Schreiben „Proposer la foi“, die deutschen Bischöfe zu ihrem Dokument „Zeit zur Aussaat“[1]. Es scheint eine Wende in der Ausrichtung der Pastoral anzustehen, eine Wende hin zu einer missionarischen Kirche.

Wenn wir fragen, wie es zu diesem Kairos kommt, so lassen sich verschiedene Gründe nennen. Da sind zunächst die eigenen, oft bitteren Erfahrungen mit der herkömmlichen Pastoral. Lange waren nun alle Anstrengungen darauf gerichtet, noch intensiver die zu begleiten, die innerhalb der üblichen Erfassungswege noch erreichbar waren – mit mäßigen Erfolgen. Nüchtern müssen wir wahrnehmen, dass ein Grossteil der Gesellschaft nicht mehr christlich geprägt ist. Gerade dies stellt vor die Herausforderung: Wollen wir uns bekümmert und mutlos auf die kleine Schar zurückziehen? Oder trauen wir unserer Erfahrung, dass der christliche Glaube nicht ein alter Ladenhüter ist, sondern ein Schatz, für den wir freimütig einstehen können, auch nach außen hin.

Wer diesen Versuch wagt, kann feststellen, dass die Menschen um uns herum mehr als erwartet suchende Menschen sind. Wie der Text „Zeit zur Aussaat“ konstatiert, macht sich trotz aller angenehmen Seiten des Lebens „deutlich auch eine gewisse Ratlosigkeit breit. Es scheint, dass eine neue Nachdenklichkeit in der Gesellschaft einkehrt“ (9). Bei genauem Hinschauen wird eine ganze Palette von Phänomenen erkennbar, die auf Suchbewegungen zurückweisen, angefangen von der Werbung, die nicht so sehr auf religiöse Symbole setzen würde, entspräche dies nicht verbreiteten Bedürfnissen, über einen Boom von religiösen Angeboten bis hin zu Filmen, die in beeindruckender Weise letzte Existenzfragen thematisieren.

Die Suche nach einer sinnvollen Bestimmung steckt unausrottbar im Menschen, und er spürt, „dass er nicht ausschließlich deshalb auf der Welt ist, um ständig immer leistungsfähigere Autos oder Videogeräte zu kaufen“, so lautet die Diagnose des Philosophen Luc Ferry. Ich greife seine Überlegungen auf als ein Beispiel dafür, wie Nicht-Christen schonungslos Fragezeichen hinter die gegenwärtige Lebenskultur setzen[2]. Ferrys Anliegen ist es, in der französischen, laizistischen Gesellschaft die Sinnfrage ins Gespräch zu bringen. Gewiss, diese Frage nach einem letzten Sinn kann umgangen werden; Ferry aber will diese Vermeidungsstrategie anfechten, indem er sie in die Krise bringt. In einem in Frankreich vieldiskutierten Buch scheut er sich nicht, oft verdrängte wunde Punkte anzusprechen. So konfrontiert er – als erklärter Nichtglaubender – die Sinnfrage und ihre vorletzten Antworten mit der Situation der Beerdigung und der Verlegenheit vor dem offenen Grab[3].

Es ist heute immer noch oder wieder möglich, die Frage nach einem letzten Sinn zu stellen, es gibt religiöse Bedürfnisse, ja, es gibt sogar eine große Not in Sachen Sinn, Identitätsfindung und Gelingen des Lebens – vielleicht ist unsere Welt gegen die christliche Verkündigung nicht so verschlossen, wie wir manchmal meinten.

Dennoch wird manchen unwohl sein, wenn nun, ermutigt durch solche Renaissance der Sinnfrage und der Religion, eine Wende der Pastoral propagiert wird, eine Wende, die sogar den eine Zeitlang so verpönten Begriff der Mission wieder aufgreift. Lauern wir also darauf, dass sich die postmoderne Welt eine Schwäche gibt, um dann groß herauszukommen als diejenigen, die ein wenig großspurig die Lösung präsentieren können? Spähen wir aus nach Krisenphänomenen, um den Finger auf die Wunden der zeitgenössischen Gesellschaft zu legen? Dies ist doch wohl kaum ein angemessener Ort für die christliche Botschaft! Tief sitzt der Stachel, den Dietrich Bonhoeffer ins Fleisch der christlichen Verkündigung trieb, als er mahnte, von Gott sei nicht in den Schwächen und an den Grenzen, sondern in der Kraft und in der Mitte des Lebens zu sprechen[4]. Bis heute ist die Verkündigung sehr darauf bedacht, Menschen auf die positive Seite ihres Lebens anzusprechen – um der Würde Gottes und um der Würde des Menschen willen!

Denn ein Gott, der nur infolge von Bedürfnissen interessiert, ist nicht als Gott anerkannt, er ist instrumentalisiert für die eigene Selbstfindung oder Selbstverwirklichung, ein Lückenbüßergott, der so lange gut ist, wie sich nicht eine andere Lösung für die nur vorläufig noch bedrängenden Probleme zeigt. Und welches Menschenbild stünde hinter einer Pastoral, die sich vorzugsweise menschliche Schwächen zunutze macht, um ihre Botschaft zu übermitteln? Menschen sozusagen in die Sinnfalle tappen zu lassen, ihnen einen Mangel anzudemonstrieren, um sich dann als Defizitbeseitiger anzubieten, das wäre in der Tat eine höchst suspekte Strategie[5].

Es ist gut, solche Einwände zuzulassen, auch um zu klären, auf Grund welcher Zuversicht wir gegenwärtig wieder eine missionarische Ader entdecken. Es genügt nicht, wenn wir erleichtert feststellen, dass wir inmitten anderer religiöser Anbieter wieder ungenierter unser Angebot präsentieren können. Zumal der dann naheliegenden Versuchung, uns möglichst marktgerecht zu präsentieren, müssen wir widerstehen. Die Art und Weise, wie wir den christlichen Glauben wieder mehr ins Gespräch bringen, muss verantwortet sein, um überzeugen zu können. Ich meine allerdings, dass gerade im Vergleich mit den vor über fünfzig Jahren formulierten Bedenken Bonhoeffers ansichtig werden kann, wie anders die Situation sich heute darstellt, anders vor allem deswegen, weil die Sinnfrage von den Grenzen in die Mitte des Lebens gerückt ist und uns zum Zeugnis verpflichtet. Dies soll der erste Abschnitt erläutern (I.). Dass dieses Zeugnis uns selbst in unserem Kirche- und Christsein herausfordert, wird Thema des zweiten Abschnittes sein (II.), bevor die Ausführungen der ersten beiden Abschnitte im letzten Teil auf das vielzitierte Phänomen der Individualisierung hin noch einmal in Thesen konkretisiert werden (III.)

I. Zum Zeugnis verpflichtet

Menschen sind auf der Suche, auf der Suche nach Sinn, auf der Suche nach religiösen Erfahrungen – und es gibt genügend Anbieter, die sich dieser Suche und zugleich des Geldbeutels dieser suchenden Menschen annehmen wollen. Religiöse Sehnsüchte sind heute ein wirtschaftlicher Faktor geworden. Ob sie dadurch einer authentischen Erfüllung zugeführt werden, ist fraglich.

Einerseits lassen heute bescheidene Sinn-Angebote Menschen hinter ihrer Bestimmung zurückbleiben. Der Werbung zufolge ist Antwort auf Sehnsucht: ein Auto, eine Urlaubsreise usw. Was geschieht mit der menschlichen Sehnsucht, wenn sie, die im letzten auf Transzendenz, auf den unendlichen Gott zielt, beständig in die Immanenz, auf endliche, begrenzte Güter zurückgebogen wird? Droht sie nicht, deformiert zu werden? Angesichts dessen müssen wird doch sagen: nein, begnügt euch nicht damit! Traut eurer Sehnsucht, wenn sie sich weigert zu glauben, dass das schon alles sein soll.

Konträr dazu werden andererseits neuerdings unendliche Sehnsüchte rehabilitiert, allerdings mit zweifelhaften Aussichten, gestillt zu werden. So wird Unsterblichkeit auf eine Weise gesucht, wie sie nicht erfüllend gefunden werden kann. Das, was sich in biotechnischen und cyberreligiösen Visionen als Verheißung ausgibt, zeugt eher von maßloser Selbstüberschätzung[6]. Angesichts dessen müssen wir doch sagen: nein, so wirst du nicht finden, was du suchst. Aber: bleib auf der Suche, es gibt, was du suchst (allerdings noch viel schöner!).

Wenn menschliche Sehnsüchte fehllaufen, wenn sie zu kurz greifen oder in Sackgassen geraten, sind wir verpflichtet, das Evangelium ins Spiel zu bringen. Denn es geht um die Wahrheit des Menschen und die authentische Erfüllung seines Menschseins. Es wäre fragwürdig, die christliche Botschaft zurückzuhalten – um der Würde des Menschen willen.

Und die Würde Gottes? Sie nimmt wohl keinen Schaden, wenn er als derjenige verkündet wird, der menschliche Sehnsüchte stillen kann! Nach christlichem Bekenntnis will Gott doch die Erfüllung des Menschen sein, auch auf der Ebene von erfahrbaren Bedürfnissen. Er ist doch selbst der eifersüchtige Gott, der sich als Konkurrent zu anderen „Sinnanbietern“ ins Spiel bringt – so wie er gegen die anderen Liebhaber Israels antritt, die Israel „Brot und Wasser, Wolle und Leinen, Öl und Getränke“ geben (Hos 2,4–17). Er tut dies letztlich in Trauer darüber, dass die Erfüllung für sein geliebtes Volk bei den Konkurrenten nicht zu finden ist, während er selbst es überreich beschenken will.

Wir tun gut dran, unsere Wende zu einer missionarischen Pastoral am Blick auf diesen Gott zu orientieren, sie somit nicht nur ekklesial, sondern vor allem theologal zu verankern. Nicht weil wir uns als Kirche wieder ins Gespräch bringen wollen, melden wir uns zu Wort, sondern weil wir eine missio haben: weil Gott uns sendet, von seiner Sehnsucht nach den Menschen und von seiner Freude, uns zu beschenken, Zeugnis zu geben.

Menschlichen Suchbewegungen darf diese Botschaft nicht vorenthalten werden. Dabei handelt es sich nicht um eine geradlinige Anknüpfung an religiöse Bedürfnisse, sondern auch um Korrektur – Sehnsüchte müssen sich läutern lassen, um zu sich selbst zu kommen. Gerade hier gilt es, der Marktförmigkeit zu widerstehen. Dabei betrifft die Sperrigkeit gegenüber den religiösen Erwartungen von Menschen insbesondere den unbedingten Anspruch dessen, was die Sehnsucht des Menschen überhaupt erfüllen kann. Manche Menschen ziehen es vor, sich mit weniger zu begnügen – eine Genügsamkeit, welche die christliche Verkündigung durchbrechen muss. Und damit tritt von einer anderen Seite her die existentielle Bedeutung der oben angesprochenen Grenzerfahrungen hervor. Ich komme hier noch einmal auf Bonhoeffer zurück.

Bonhoeffer mahnte, von Gott nicht an den Grenzen, also nicht vor allem im Blick auf Tod, Leiden, Schuld, sondern in der Mitte des Lebens zu sprechen. Er hatte Sorge, die Menschen würden auf die Schwächen und Ränder ihres Lebens fixiert, statt zu einem Christsein mitten im Leben befähigt. Und in der Tat ist ein christlicher Glaube, der nur für Grenzerfahrungen hinzugezogen wird, kein ganzer Glaube.

Doch so gewiss der christliche Glaube nicht nur in Grenzerfahrungen beansprucht werden will, so sehr muss doch auch gefragt werden: Was wird aus der christlichen Botschaft, wenn sie nicht in Bezug gesetzt wird zu den Nöten, die Menschen – gerade auch in Extremsituationen – umtreiben: wird sie nicht zur Verzierung, statt tragender Lebensgrund zu sein?

Und: Was wäre der Mensch ohne seine Grenzerfahrungen? Wird nicht die Mitte des Lebens fad, wenn sie Herausforderungen an der Grenze verdrängen muss? Gerade durch Grenzerfahrungen kommen wir Menschen vor uns selbst, gerade in ihnen wird wahrnehmbar, wie wir an Gott angrenzen. Es gibt Gründe, die Existenzfragen an den Grenzen menschlichen Lebens als konstitutiv für ein vertieftes Selbstverständnis des Menschen anzusehen. Und wir sollten aufmerksam wahrnehmen, dass diese Fragen heute zuweilen viel mehr in der Mitte des Lebens aufbrechen, als wir denken, nämlich bei der Frage, wie menschliches Leben gelingen kann (s.u. III.).

Wir müssen den Mut haben, menschliches Dasein in die Tiefe zu führen, indem wir Grenzerfahrungen von den Rändern in die Mitte führen. Wir können diesen Mut haben, weil der christliche Glaube nicht eine mögliche Verzierung menschlichen Lebens – unter anderen – ist, sondern tragfähige Basis, eine Wahrheit, mit der man leben und sterben kann (siehe im Heidelberger Katechismus die erste Frage: „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“). Verzierungen tragen nicht im Sterben, darum auch letztlich nicht im Leben; sie lohnen es nicht, dass man für sie stirbt; sie lohnen darum auch nicht, dass man für sie lebt.

Gestatten Sie mir die provokative Frage, ob wir der Versuchung, den christlichen Glauben zur Verzierung zu machen, nicht manchmal nachgegeben haben. Ich spitze dies ein wenig überscharf zu.

Haben wir den Vorwurf von Karl Marx, das Christentum vertröste die Menschen auf das Jenseits, statt das Diesseits zu verändern, verinnerlicht, und deswegen zu wenig vom Jenseits gesprochen? Wenn ja, dann haben wir, wie Paul M. Zulehner anprangert, beigetragen zu den Vertröstungen auf das Diesseits[7], statt von der Hoffnung Zeugnis zu geben, die uns bewegt. Trauernde und Sterbende müssten sich dann allein gelassen fühlen, denn sie bedürfen mehr als nur einiger guter Worte am Krankenbett und am Grab – sie bedürfen einer Gemeinschaft von Christen, die den Tod in seinen verschiedenen Formen (Vergeblichkeit …) in der Mitte des Lebens zulassen können, weil sie ihn seit der Taufe schon überwunden wissen und darum anders leben können.

Haben wir der Ausblendung von Schuld Raum gegeben und wie unsere Zeitgenossen Sünde als unangenehmes Thema verdrängt? Wenn ja, dann haben wir, um mit Johann Baptist Metz zu sprechen, zum Unschuldswahn beigetragen, statt die menschliche Würde hochzuhalten, indem wir Menschen auf ihre Verantwortlichkeit ansprechen[8]. Diejenigen, die unter Schuld leiden, wären dann allein gelassen; diejenigen, die ihre Schuld verdrängen, bestärkt, der Würde ihres Menschseins Abbruch zu tun.

Haben wir die Radikalität der Gnade, die neues Leben begründet und gestalten will, abgeschwächt? Wenn ja, dann sind wir Spiegelbild der Identitätsschwäche vieler Menschen in unserer Gesellschaft geworden, der Menschen, die allzu oft nicht wissen, wovon her und wofür sie eigentlich leben. Dabei könnten wir Christen Menschen sein, die aus ihrem Glauben Kraft schöpfen, konsequent ihren Weg zu gehen und gerade so den Herausforderungen und auch den positiven Möglichkeiten unserer Zeit gerecht zu werden.

Letzte Fragen treiben Menschen um: Fragen nach dem Woher und dem Wohin des Lebens, nach der eigenen Identität. Gewiss haben wir Christen nicht für all diese Fragen eine fertige Antwort. Wohl aber haben wir Verheißungen, aufgrund derer wir uns diesen Existenzfragen zuversichtlich stellen und die in ihnen aufbrechende Not überwinden können. Und davon Zeugnis zu geben ist uns aufgetragen. Wenn wir darauf verzichten, machen wir aus dem christlichen Glauben eine Verzierung menschlichen Lebens. Warum aber sollten wir eine banale Verzierung unseres Lebens anderen Menschen antragen, aufdrängen – haben sie doch vielleicht ihre Verzierung längst woanders gefunden? Nein, was wir bezeugen, ist mehr, es ist Fundament von Leben und Quelle von Hoffnung und Freude.

II. Aus eigenem Lebensreichtum weitergeben

Der so erhobene Anspruch lässt sich offenkundig nicht mehr mit einer Zeitdiagnose begründen, die erstaunliche Suchbewegungen wahrnimmt; dieser Anspruch muss aus der Botschaft genommen werden. Und tatsächlich sollten wir uns Rechenschaft ablegen, dass die Zuversicht zu einer missionarischen Pastoral nicht aus dem Blick auf die Zeit erwächst. Diese Zuversicht ist tragfähig nur, wenn sie dem Glauben selbst entspringt. Und das stellt uns vor die heilsame Frage, ob wir selbst tief genug darin verwurzelt sind, ob wir selbst genügend daraus leben, um diese Botschaft missionarisch verkünden zu können.

Mission setzt ein geklärtes Selbstverständnis voraus. Eine missionarische Kirche weiß sich gesandt zu jenen, die (noch) nicht glauben, in der Überzeugung, eine Botschaft zu haben, die es wert ist, angehört und angenommen zu werden. Mit der Gleichgültigkeit von Menschen findet sie sich nicht ab, denn sie glaubt, auch die Gleichgültigen, die einstweilen nichts von der Botschaft hören wollen, seien von dieser Botschaft doch gemeint. Dem Motto, jeder solle doch nach seiner eigenen Fasson selig werden, wird so widersprochen. Denn wenn wir Menschen auf Leben in Fülle hin geschaffen sind, wie es in der Gemeinschaft mit Gott zu finden ist, dann wird menschliches Leben nicht beliebig selig, dann gelingt es nicht so oder so. Eine missionarische Kirche verkündet Menschen die christliche Botschaft nicht nur als ein mögliches Sinnangebot, sondern in der Überzeugung, dass Gott in Jesus Christus das Menschsein aller Menschen berührt und auf ein neues Leben hin ausgerichtet hat und dass es kein größeres Glück gibt, als diese Berührung zum Ausgangspunkt des eigenen Lebens zu machen und so je mehr in diese neue Wirklichkeit hinein zu wachsen.

Wenn dies dem missionarischen Kirchesein zugrunde liegt, dann sind zuerst unser Glaube und unsere eigene Lebensüberzeugung herausgefordert. Glücklich scheint mir die Formulierung von Bischof Wanke in seinem dem Schreiben der Bischöfe beigefügten Brief: „‚Mission‘ heißt für mich schlicht: Das weitersagen, was für mich selbst geistlicher Lebensreichtum geworden ist“ (37). In der eigenen Erfahrung, wie der Glaube trägt, liegt der Schlüssel zu einem missionarischen Engagement, das einerseits tatsächlich selbstbewusst die eigene Botschaft weitersagt, ohne andererseits indoktrinierend aufzutreten.

Zu Recht schreibt darum Kardinal Karl Lehmann in seinem Geleitwort zu „Zeit zur Aussaat“: „Missionarisch Kirche sein bedeutet nicht, eine zusätzliche kirchliche Aktivität zu entfalten“ (6). Wir sind vielmehr gefragt nach einer Revision dessen, was wir leben. Noch direkter gesagt: Wenn Sie als hauptamtliche Seelsorger und Seelsorgerinnen verantwortlich sind, die Kirche auf ihren missionarischen Auftrag hinzuführen, dann geht es nicht um noch eine Anforderung mehr, sondern zuallererst dürfen Sie sich auch Zeit nehmen für Ihren eigenen Glauben und Ihr eigenes Leben aus dem Glauben.

Wer missionarisch Kirche sein will, muss zuerst selbst entschieden den Ausgangspunkt des eigenen Lebens im Glauben nehmen, vertrauend, dass es keinen besseren gibt. Eine missionarische Kirche braucht Gottsuchende, die überzeugt sind: Es gibt kein lohnenderes Ziel im Leben, als diesen Gott zu suchen und ihm je näher zu kommen. Eine missionarische Kirche braucht Menschen, die sich von Christus haben ergreifen lassen und darin das Glück ihres Lebens gefunden haben. Eine missionarische Kirche braucht Menschen, die auf den Geist horchen und die dabei in befreiender Weise erfahren haben, wie sie ins Weite geführt werden.

Wir sollten uns nicht darauf ausruhen, dass dies doch selbstverständlich ist. Ist es das? Wir müssen uns doch fragen, warum trotz des religiösen Booms das Christentum nicht hoch im Kurs steht. Unübersehbar interessieren sich Menschen für religiöse Angebote, und das oftmals in einer großen Ernsthaftigkeit. Es muss uns ein Stachel sein, wenn so wenige auf die christliche Botschaft zurückkommen. Warum ist dies so? Manche sagen, der spirituelle Anspruch vieler Menschen sei wesentlich höher als das, was von der Kirche angeboten wird. In der Tat sind es auf dem religiösen „Markt“ gerade die ausdrücklich spirituellen, meditativen Angebote, die breiten Anklang finden. Ist dies ein Indiz dafür, dass eben das Bekenntnishafte des Christlichen in einem eher vagen religiösen Boom keine Chance hat? Mir scheint nicht das Bekenntnis als solches Hindernis zu sein, das Menschen auf Distanz gehen oder bleiben lässt. Problematisch ist aber, dass Menschen den Eindruck gewinnen, wir hätten ein Bekenntnis, das jedoch äußerlich bleibt und in die menschliche Existenz zu wenig prägend eingeht. Und dies muss uns herausfordern. Wenn wir Christen heißen, dann ist dies doch nicht nur ein Name, sondern eine Ortsbestimmung: wir leben „in Christus“.

Menschen erwarten von der Religion Lebenswissen[9] – und tun sie das nicht zu Recht? So müssen wir uns fragen lassen, ob wir aus unserem Bekenntnis Lebenskunst schöpfen. Leben wir aus unserem Bekenntnis? Leben wir unser Bekenntnis? Wird die Wahrheit unseres Glaubens zu einer gelebten Wahrheit, zu der ein Lebensstil gehört?

Sie kennen die Frage (nicht nur) von Jugendlichen: „was bringt mir das?“ Und: „was bringt mir der Glaube?“ Wir hören die Frage nicht gern, sie klingt uns zu oberflächlich. Hören wir sie vielleicht manchmal auch deswegen nicht gern, weil es uns schwer fällt zu benennen, was eigentlich der christliche Glaube bringt? Der Glaube will doch tatsächlich etwas bringen – Grundbegriff dafür ist der theologische Begriff Gnade – und unser Zeugnis muss glaubwürdig davon sprechen, wie solche Gnade tatsächlich unser Leben verwandelt. Dies bedeutet nicht, den Glauben an der Nützlichkeit zu messen und um seiner Nützlichkeit willen anzunehmen und anzupreisen. Glauben heißt Leben in einer Beziehung, die offenkundig nicht als Mittel zum Zweck – weil sie etwas bringt – eingegangen wird, von der man aber sehr wohl bekennen kann, wie überwältigend sie Hoffnung und Freude zu stiften vermag.

Lassen Sie mich das noch von einer anderen Seite her verdeutlichen. Es ist heute wieder viel von den menschlichen, auch von religiösen Sehnsüchten die Rede. Es wird ihnen nachgespürt in der Literatur, in moderner Poesie, wo es in der Tat eindrucksvolle Versprachlichungen gibt. Doch manchmal scheint es, als seien diese Sehnsüchte auch für christliche Augen faszinierender als die Botschaft von ihrer Erfüllung. Jedenfalls finden wir keine Sprache, davon ebenso faszinierend zu künden[10]. Weit häufiger ist die nüchterne Bilanz, dass uns die früheren emphatischen Zeugnisse vom Eingeborgensein in Gottes Heilsplan fremd geworden sind[11]. Mag sein, dass die Sprache früherer Zeiten uns fremd geworden ist – aber wir müssten doch neue Sprachgewänder finden! Steht an der Wurzel solcher Sprachlosigkeit nicht auch die Erfahrungslosigkeit? Fehlen uns die Erfahrungen, die ein gläubiges Leben ausmachen, und die sich den Weg zur Sprache bahnen würden? Ich meine damit nicht so sehr Gotteserfahrungen, auf die sich manche vielleicht sogar vorschnell berufen; ich meine Glaubenserfahrungen: Erfahrungen damit, was es für das eigene Leben bedeutet, sich auf Gott einzulassen; Erfahrungen, im Ruf Gottes sich selbst und die Mitmenschen, und in der Nachfolge Jesu den Sinn des Lebens zu entdecken.

Eine missionarische Kirche muss die Sehnsüchte der Zeit kennen – und wahrnehmen, wie sehr die Sehnsüchte unserer Zeit ja auch die eigenen Sehnsüchte sind. Um missionarische Pastoral zu verantworten, bedarf es darüber hinaus aber der lebendigen Gewissheit, sie in einer christlichen Lebensgeschichte gut aufgehoben zu wissen.

III. Missionarische Pastoral im Kontext der Individualisierung

Im letzten Teil meines Vortrags möchte ich die bisherigen Ausführungen auf ein Phänomen zuspitzen, das für die gegenwärtige Suchbewegung in unserer Gesellschaft besonders charakteristisch ist und uns herausfordert, unseren Glauben zu bezeugen. Daraus ergeben sich einige Thesen zur konkreten Gestaltung missionarischer Pastoral.

In der gegenwärtigen Analyse der menschlichen Gesellschaft und der Lebenseinstellungen spielt der Begriff Individualisierung eine bedeutende Rolle. Er steht für die grössere Freiheit, in der Menschen heute ihr Leben je individuell gestalten können, ja, gestalten müssen. Dieses Phänomen muss differenziert angeschaut werden. Im kirchlichen Bereich werden oftmals eher kritisch negative Erscheinungsformen dieser Lebenseinstellung vermerkt: eine Tendenz zum Individualismus, der rücksichtslos die eigenen Lebensziele zu verwirklichen sucht; eine Tendenz zur Bindungslosigkeit. Eine pauschale Verurteilung verbietet sich jedoch aus zwei Gründen. Zum einen ist die Individualisierung als solche selbst nicht negativ zu bewerten. Viel eher könnte man sagen, dass die Herausforderung, je individuell den eigenen Lebensweg zu suchen, der christlichen Überzeugung, dass Gott jeden Mensch auf je persönliche Weise ruft und führt, verwandt ist. Zum anderen hilft es rein pragmatisch gesehen nicht, das Phänomen der Individualisierung zu verurteilen, weil es keine Chance gibt, ihr durch ein solches Urteil zu entkommen: sie ist unausweichlich. Den einzelnen Menschen – uns allen! – bleibt paradoxerweise keine Wahl, ob sie / ob wir an diesem Prozess teilnehmen wollen oder nicht. In Anlehnung an Sartre ist formuliert worden: „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“[12]. Mit der Erweiterung der individuellen Entscheidungsmöglichkeiten geht die Verschärfung des individuellen Entscheidungszwanges einher. Mag die Wahlbiographie auch Tendenzen zur Bastelbiographie haben – sie ist unvermeidlich.

In dieser Situation verdichten sich die Anzeichen, dass Menschen mit dem Anspruch, ihre Biographie weitgehend selbst zu gestalten, überfordert sind. Viele Menschen geben die Freiheit, in der sie ihre Biographie gestalten könnten, allzuschnell wieder preis durch die chamäleonhafte Angleichung an zwar noch mehr oder weniger selbst gewählte, aber nicht mehr selbst (mit-)gestaltete Lebenssegmente. Dabei scheint es zweitrangig zu sein, wie sich diese Segmente zueinander verhalten. Aus einer Bastelbiographie, die immer auch eine Risikobiographie ist, wird allzuoft eine Bruchbiographie[13]. Statt mit innerer Konsequenz den gewählten Lebensweg zu gehen, verliert man sich an das, was jeweils Befriedigung verspricht; statt aus Eigenem zu leben und der inneren Stimme zu folgen, wird gehascht nach Aufmerksamkeit, nach Anerkennung. Die einen finden solche Anerkennung durch flexible, rückgratlose Anpassung an das je Erwartete, die anderen durch fundamentalistische Totalidentifikation mit einer bestimmten Gruppe – eine persönliche Identität lässt sich weder auf die eine noch auf die andere Weise gewinnen.

Der solcherart drohende Identitätsverlust weckt Sorge um das Menschsein des Menschen. Hier liegt die eigentliche Herausforderung der Individualisierung: Wie kann die unvermeidliche Wahlbiographie aus einer eigenen Identität heraus gestaltet werden, damit sie nicht zur Bruchbiographie wird? Wie bleiben Menschen angesichts der vielen Möglichkeiten, die ihnen offen stehen, mit sich identisch, wie bleiben sie Subjekt ihrer Biographie? Wo ist die Mitte zu finden, von der aus das persönliche Leben Gestalt gewinnen kann? Letztlich steht hier das Menschsein des Menschen auf dem Spiel; es steht auf dem Spiel, ob die prinzipielle Möglichkeit, das eigene Leben kreativ zu gestalten, umschlägt in Selbstverlust und Abhängigkeit.

An der Frage nach der eigenen Identität entscheidet sich, was aus Menschen heute wird. Wer bin ich eigentlich? Wie gelingt meine Lebensgeschichte? – das sind Heilsfragen ersten Ranges geworden. Hier wird deutlich, wie sehr Grenzfragen mitten ins Leben gerückt sind!

In den vergangenen Jahrzehnten ist vielen neu aufgegangen, dass man mit der Schöpfung nicht ausbeuterisch umgehen darf. Die Sensibilität für die Unverfügbarkeit der Schöpfung ist gewachsen. Vielleicht wird in den kommenden Jahren eine vergleichbare Einsicht im Bereich des je persönlichen Lebensentwurfes wachsen. Auch der eigenen Lebensgeschichte gegenüber gilt es ehrfürchtig zu sein, es gilt, sie verantwortlich zu gestalten. Wer ausbeuterisch mit seiner Lebenszeit umgeht, nur getrieben von der Sucht, alles herauszuholen, dem stirbt das Leben ab.

Wenn in der gegenwärtigen Phase der Individualisierung das Menschsein des Menschen auf dem Spiel steht, dann dürfen wir als Christen die Botschaft, die uns ergriffen hat und die uns unsere Identität schenkt, nicht verschämt verschweigen. Ich komme damit zum Fazit des ersten Teils zurück: wir sind verpflichtet zum Zeugnis. Aus Sorge um das Menschsein des Menschen ist es sogar diakonische Pflicht, diese Botschaft zur Sprache zu bringen:

These 1: Missionarische Pastoral erfüllt eine diakonische Aufgabe in den Existenznöten unserer Zeit.

Martyria und diakonia rücken zusammen! Bedeutsam dürfte dies insbesondere im Bereich der Jugendpastoral sein, und vielleicht wäre es gut, hier die Akzente ein wenig von der Erfassungspastoral im Zusammenhang der Firmung zu verschieben hin zu freien Angeboten, etwa im Zusammenhang mit der Berufsfindung.

In welcher Weise können wir „Hilfe“ anbieten? Gerade hier erweist sich, wie wenig eine authentische christliche Verkündigung darauf bedacht sein kann, sich menschliche Schwäche zunutze zu machen. Missionarische Pastoral muss eine sehr anspruchsvolle Pastoral sein, die Menschen nicht auf ihre Schwäche festschreibt, sondern sie stärkt und zu einer sehr umfassenden, aktiven Aneignung des Christseins herausfordert.

These 2: Missionarische Pastoral ist anspruchsvolle Pastoral.

Eine missionarische Pastoral, so sahen wir vorhin, setzt eine überzeugte Lebenspraxis voraus. Die Lebenseinstellung muss dahin gehen, das christliche Bekenntnis je mehr mit allen Fasern des Daseins zu bejahen und zu bewähren. Genau dies ist aber die Richtung, in die auch jene Menschen eingeladen werden müssen, denen die christliche Botschaft verkündet wird! Nicht weil das Ziel eine Elitekirche ist, sondern weil die heilsame Identität eines christlichen Lebens nun einmal nicht nebenher mitgenommen werden kann. Sie wird in einer Lebensgeschichte gewonnen, die sich am Glauben orientiert und ihn umsetzt. Die Schönheit einer christlichen Lebensgestalt und darum die Freude, die einem christlichen Leben zugesagt ist, erwächst aus der je mehr zu suchenden Integration des ganzen Lebens in die Nachfolge Jesu hinein.

Wie sehr dies für die Seelsorger und Seelsorgerinnen registrierbar wird und ob sich das in einer Identifikation mit der Gemeinde widerspiegelt, ist eine andere Sache – der ganze Anspruch aber muss zugemutet werden.

Nur am Rande sei bemerkt, dass diese anspruchsvolle Pastoral im Kontext unserer Kultur nicht weniger, sondern mehr gesprächsfähig ist. Die Orientierungsdefizite der gegenwärtigen Gesellschaft werden heute von verschiedenen Seiten benannt. Der christliche Glaube aber wird aufs Ganze gesehen selten als hilfreich empfunden, sondern eher unter die „regressiven Antworten“[14] gezählt. Man unterstellt, der christliche Glaube gebe nicht eine Orientierung hin zu einem selbstverantworteten Lebensentwurf, sondern stelle eine Sinnvorgabe dar, die jenseits der subjektiven Gestaltung bleibt[15]. Dieser Verdacht auf Heteronomie ist für den anfangs zitierten Philosophen Ferry Hauptgrund, an die Stelle des christlichen Glaubens einen bloßen Humanismus zu setzen[16].

Der Sache nach trifft dieser Verdacht auf Heteronomie nicht zu – und wir sollten darum auch vorsichtig sein, das oft formulierte Lebensmotto „Das Leben hat nur den Sinn, den man ihm gibt“ nicht vorschnell abzuweisen mit dem Hinweis: „Sinn kann man nicht machen“. Christlicher Glaube ist keine reine Sinnvorgabe, die man nur entgegenzunehmen bräuchte, sondern ist Anruf, der zu einer dialogischen Lebensgeschichte einlädt.

Das heisst: in der Verkündigung und in der Realisierung christlicher Existenz ist die Spannung zu unterstreichen und auszuhalten, die zwischen der uns tatsächlich geschenkten Identität und der in eigener Suche zu findenden Identität liegt. Zwar ist der christliche Glaube eine Vor-Gabe, doch bedarf es der unvertretbaren Suche der einzelnen, damit diese Vorgabe im eigenen Leben zu einer persönlichen Sinngestalt wird.

Die Spannung von verlässlichem, freimachendem Ausgangspunkt und freier Wahl ist faszinierend zur Sprache gebracht in dem „Prinzip und Fundament“ der ignatianischen Exerzitien (Exerzitienbuch Nr. 23). Der Mensch, davon ist Ignatius von Loyola überzeugt, ist nicht dazu geschaffen, sich ziel- und richtungslos durchs Leben zu schlängeln. „Geschaffen ist der Mensch zu diesem Ziel, dass er den Herrn, seinen Gott lobe und verehre, und indem er ihm dient, schliesslich heil wird“.

Dem menschlichen Leben ist ein Ziel geschenkt, und zwar kein geringeres als Gott selbst, die Gemeinschaft mit ihm, und die Herausforderung, von ihm gefragt zu sein, ob wir mit ihm gemeinsame Sache machen wollen. Allerdings genügt es nicht, dass es dieses Ziel objektiv gibt – gerade darum lädt ja Ignatius zu dem anspruchsvollen Weg der Exerzitien ein. Dieses Ziel muss ins eigene Leben hineingenommen werden.

Dies vorausgesetzt und durch dieses geschenkte und übernommene Ziel der Sorge um den Sinn des eigenen Lebens entbunden kann umso aufmerksamer wahrgenommen werden, welche Möglichkeiten diese Welt bietet.

„Die übrigen auf der Erde gelegenen Dinge sind um des Menschen willen geschaffen, damit sie ihm bei der Erreichung des Ziels seiner Schöpfung helfen. Daraus folgt, dass man sie soweit gebrauchen oder sich ihrer enthalten muss, wie sie zur Erreichung des Ziels entweder beitragen oder hindern“.

Die gewonnene Grundausrichtung macht aus der blossen Wahlfreiheit, die angesichts der unzähligen faszinierenden Möglichkeit, die heute offen stehen, ratlos und entscheidungsunfähig bleibt, eine engagierte Freiheit, welche das sich Darbietende je nach Eignung aufgreift. Dies gelingt umso besser, als die „übrigen Dinge“ nicht die letzte Sehnsucht zu befriedigen brauchen, sondern dienstbar gemacht werden sollen. Wer sich ihrer so bedient, braucht sich nicht an ihre Eigendynamik zu verlieren, sondern kann souverän damit umgehen und sie dem eigenen Weg dienstbar machen.

Wäre das eine Vision für Christen: Menschen zu sein, die mit den Möglichkeiten dieser Welt auf je persönliche Weise kunstvoll jonglieren, weil sie, von einem verlässlichen Grund getragen und von einem lohnenden Ziel beansprucht, die nötige Gelassenheit und Leichtigkeit, aber auch die orientierende Kraft gefunden haben?

Vor diesem Hintergrund scheint mir, dass mit den in vielen Gemeinden praktizierten Exerzitien im Alltag hier bereits ein guter Weg gegangen wird hin zu solch einer aktiven und ganzheitlichen Aneignung des eigenen Glaubens.

Diese Exerzitienpraxis antwortet zugleich auf eine andere Not unserer Zeit, welche die Pastoral herausfordert, spirituelle Akzente zu setzen.

Als Folge der Individualisierung leiden Menschen heute unter dem Grundgefühl, allein gelassen zu sein. Umso stärker artikuliert sich das Bedürfnis, wahrgenommen zu werden – big brother lässt grüßen. In dem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ von Milan Kundera heisst es einmal knapp: „Wir alle haben das Bedürfnis, von jemandem gesehen zu werden“[17]. Zeugt nicht auch die Handy-Kultur von dem Wunsch, wie mit einer Nabelschnur immer an jemanden zurückgebunden zu sein? Es soll immer jemanden geben, der um mich weiß, der weiß, was ich gerade tue und was ich empfinde und wie es mir geht. Nicht umsonst rangieren Beziehungswerte in Wunschlisten ganz oben. Wenn in bestürzender Weise gleichzeitig die Plausibilität eines personalen Gottes schwindet, dann sollte uns das nachdenklich machen und auch zu entsprechenden Akzentsetzungen in der Verkündigung führen.

Der christliche Glaube ist geprägt von der Überzeugung, eingeborgen zu sein in eine Beziehung, die das Leben von Grund auf trägt. Der Gott, zu dem wir sagen: Du hast mich erforscht und du kennst mich (Ps 139,1), ist der Gott, der uns in Jesus Christus als seine Kinder angenommen hat und zudem wir im Geist rufen können: Abba, Vater. Es ist diese Gottesbeziehung, auf die der Glaube hinauswill – besser: er ist diese Beziehung, oder noch mehr: das Hineingenommensein in die Beziehung Jesu zum Vater, die sich uns in der Teilhabe an dem Geist, den er uns gesandt hat, auftut.

These 3: Missionarische Pastoral muss aus der Gottesbeziehung erwachsen, damit so ein Zeugnis möglich wird nicht „über“ den Glauben, sondern ein Zeugnis, das sich aus der Beziehung heraus ergibt. Missionarische Pastoral muss aus dieser Gottesbeziehung erwachsen und gerade so andere Menschen in diese Beziehung hineinführen; sie muss darum spirituelle Qualität haben.

Das Wort von Rahner, der Christ von morgen werde ein Mystiker sein, oder nicht mehr sein, ist zwar inzwischen schon abgegriffen, doch aufs Ganze gesehen fern von Verwirklichung! Dies ist nicht nur deswegen erschreckend, weil so das „nicht mehr Christ sein“ als dunkler Horizont droht, sondern weil dies die Armut des Christseins vieler Menschen erkennen lässt. Dabei haben wir nichts Kostbareres zu leben als diese Beziehung; wir haben auch nichts Kostbareres zu verkündigen!

Missionarische Pastoral als diakonische, gerade auch in den Nöten der Identitätsfindung unserer Zeit, ist eine anspruchsvolle Pastoral, eine Pastoral, die spirituelle Tiefe haben muss – aus diesen drei Thesen ergibt sich ein viertes:

These 4: Eine missionarische Pastoral wird sich an die einzelnen wenden, wird also seelsorglich ausgerichtet sein. Dies liegt schon im Wesen recht verstandenen missionarischen Wirkens: Verkündigung zielt auf die Annahme des Glaubens in der je persönlichen Bekehrung, auf die Glaubensentscheidung. Diese unvertretbare Dimension des Glaubens ist über der Neuentdeckung der Gemeinschaft im 20. Jahrhundert vielleicht zu sehr in den Hintergrund getreten. So sehr Glaube und Christsein nur in Gemeinschaft gelebt werden kann und von ihr getragen wird, so sehr ist beides doch an die persönliche Entschiedenheit gebunden. Mir scheint, dass diese Einsicht sich allmählich wieder stärker durchsetzt. Um es an einem Detail festzumachen: Sie kennen vermutlich die Unsicherheit in der Osternacht bei der Tauferneuerung, wenn die Gemeinde nach ihrem Glauben gefragt wird: „Glaubt ihr …?“ Die einen antworten: Wir glauben, die anderen: ich glaube. Im Messbuch steht: „Ich glaube“; im Gotteslob von 1975 ist zu lesen: „Wir glauben“, in der revidierten Fassung von 1992 wiederum: „Ich glaube“ – und letzteres dürfte angemessener sein. Das Taufbekenntnis ist das je unvertretbar zu leistende und darum auch je unvertretbar zu erneuernde Bekenntnis.

Missionarische Pastoral zielt auf die einzelnen – das gilt erst recht im Kontext unserer Zeit. Das erste Ziel der Pastoral ist nicht, Menschen an Gemeindeaktivitäten zu binden, sondern ihnen zu helfen, ihr Leben aus einer christlichen Identität zu gestalten. Nur einen Bruchteil ihres Lebens verbringen Menschen im Raum des ausdrücklichen Gemeindelebens – ihr ganzes Leben aber sind sie Christen. Eine Gemeinde soll Nährboden für eine christliche Identität sein, die das ganze Leben umfasst. Umgekehrt ist es gut, wenn in den Gemeinden mehr aufscheint, wie Menschen in der Berufswelt, in anderen Engagements, in Familie und Nachbarschaft ihren Glauben leben.

Gerade dies ist unabdingbar für eine missionarische Kirche. Sie kann ihren missionarischen Dienst nicht auf den Verkündigungsdienst der institutionellen Kirche und ihrer hauptamtlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen beschränken. Missionarische Kirche lebt vom Zeugnis ihrer Glieder je an ihrem Ort. Die Zeichen der Zeit stehen auf Aussaat. Wenn wir dies ernst nehmen, müssen wir unser Verständnis der Zeichen der Zeit selbst revidieren. Der Soziologe Peter Berger referiert in seinem Buch „Sehnsucht nach Sinn“ das Wort eines Fachkollegen, die Christen sollten lernen, die Zeichen der Zeit nicht nur zu lesen, sondern solche auch zu schreiben[18]. Mitten in unserer Gesellschaft tun dies die Christen, die in unseren Gemeinden Nährboden für ihren Glauben finden, die aber von dort immer wieder den Impuls erfahren sollten: Geht hinaus, es ist Zeit zur Aussaat.

Eva-Maria Faber, Chur


[1] Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf dieses Dokument: „Zeit zur Aussaat“. Missionarisch Kirche sein. 26. November 2000. Hrsg. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Bonn 2000 (Die deutschen Bischöfe 68).

[2] L. Ferry, Von der Göttlichkeit des Menschen. Oder: Der Sinn des Lebens. Wien: Zsolnay, 1997, 19.

[3] „Es ist eine unumstößliche Tatsache, dass die Psychologie die Theologie entthront hat. Und trotzdem überfällt die Menschen am Tag des Begräbnisses beim Anblick des geöffneten Grabes und des Sarges Verlegenheit. Was kann man der Mutter sagen, die ihre Tochter verloren hat, was dem verzweifelten Vater? Mit einem Mal sind wir ganz rückhaltlos mit der Frage nach dem Sinn, oder vielmehr mit ihrem Verschwinden in der laizistischen Welt konfrontiert“ (ebd. 10).

[4] Vgl. D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn, 1985 (Gütersloher Taschenbücher Siebenstern 1), 156 (Eintrag 25.5.1944).

[5] Vgl. H.J. Höhn, Zerstreuungen. Religion zwischen Sinnsuche und Erlebnismarkt. Düsseldorf: Patmos, 1998, 163. Höhn selbst sieht Sinn und Bedrohtheit von Sinn unlöslich miteinander verknüpft.

[6] Vgl. Kl. Müller, Computer machen Leute. Philosophie, Neue Medien und Cyber-Religion. In: Renovatio 12 (1998) 149-162.

[7] P.M. Zulehner, Wie Musik zur Trauer ist eine Rede zur falschen Zeit. Wider den kirchlichen Wort-Durchfall. Ostfildern: Schwabenverlag, 1998, 39: „Längst haben wir Abschied genommen von solcher Vertröstung aufs Jenseits. Inzwischen ist die Kultur im anderen Straßengraben gelandet und vertröstet die Menschen auf das Diesseits. Die Kirchen aber sind verstummt. Sie schweigen über die letzten Dinge“.

[8] J.B. Metz, Vergebung der Sünden. Theologische Überlegungen zu einem Abschnitt aus dem Synodendokument ‚Unsere Hoffnung‘. In: StZ 195 (1977) 119-128.

[9] „Die aktuelle Nachfrage nach Religion äußert sich vor allem in der Suche nach einem ‚Lebenswissen‘, nach einer neuen ‚Lebenskunst‘, welche die Grundkonflikte und Reifungskrisen des Menschen kreativ zu bewältigen hilft, seine Lebenspraxis sinnhaft strukturieren kann und die Möglichkeiten zur Vergewisserung der eigenen Identität gibt. Vom Religiösen erwartet man Auskunft auf die Frage, was es mit dem Leben eigentlich auf sich hat, worauf man es gründen kann, um Stand und Stehvermögen im Dasein zu gewinnen“: Höhn, Zerstreuungen 21.

[10] Zur Bedeutung der Sprachfähigkeit siehe Zeit zur Aussaat 19. In einem Band zum Jubiläum des Berufs der Pastoralreferenten im Bistum Limburg wird die Sprachlosigkeit im Glauben auch bei Hauptamtlichen beklagt. Zum pastoralen Dienst gehöre, so heißt es dort, „die eigene Glaubensüberzeugung und vor allem die Fähigkeit, authentisch und nicht formelhaft über diese zu sprechen, unverzichtbar dazu … So ist in allen Seelsorgsberufen festzustellen, dass die gesellschaftliche Sprachlosigkeit in Glaubensdingen auch den geweihten und ungeweihten Hauptamtlichen nicht unbekannt ist, gerade wenn es um das persönliche Zeugnis geht“: Cl. Olbrich (Hrsg.); R.M.W. Stammberger (Hrsg.): Und sie bewegen sich doch. PastoralreferentInnen – unverzichtbar für die Kirche. Freiburg i.Br.: Herder, 2000, 33.

[11] Vgl. z.B. G. Langenhorst, Wenn die Poeten beten … Schriftsteller als Sprachlehrer der Gottesbeziehung? In: GuL 74 (2001) 27-42.

[12] U. Beck; E. Beck–Gernsheim, Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie. In: dies. (Hrsg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1994 (edition suhrkamp 1816), 10–39, 14.

[13] Ebd. 13.

[14] H. Keupp, Ambivalenzen postmoderner Identität. In: Beck; Beck–Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten, a.a.O., 336–350, 337.

[15] „Während die christlichen Kirchen den Sinn des Lebens in ein Absolutum jenseits der Person legen, sieht die moderne Weltanschauung den Sinn des Lebens in der Selbstentfaltung der Person“: H. Meulemann; Kl. Birkelbach, Säkularisierung und Selbstthematisierung. Determinanten der biographischen Selbstreflexion dreißigjähriger ehemaliger Gymnasiasten. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie 45 (1993) 644–667, 646.

[16] Vgl. Ferry, Von der Göttlichkeit 251-255.

[17] M. Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Frankfurt/M.: Fischer, 1987 (München: Hanser, 1984), 257.

[18] Vgl. P.L. Berger, Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit. Frankfurt/M.: Campus, 1994, 21.